Detailverlust

Schenke mir deine Aufmerksamkeit, beglücke mich mit einem »Like«, »poste« mich oder – in der schönsten aller Aufmerksamkeitswelten – kommentiere mich. Im Sekundentakt prasseln Informationen auf uns ein, die verarbeitet und bewertet werden wollen. Wir leben in einer schnelllebigen Zeit. Die Aufmerksamkeitsspannen werden immer kürzer. Informationen treten in Wettbewerb und buhlen um unsere Aufnahmekapazität. Die Folgen sind Optimierungsbestrebungen auf der einen und Detailverlust auf der anderen Seite. Hat dies Folgen für die Gestaltung?

Laut einer Studie von Microsoft ist die Aufmerksamkeitsspanne des allgemeinen Nutzers bereits vor Lesen dieses ersten Absatzes zu Ende gewesen. Lag die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne im Jahr 2000 noch bei zwölf Sekunden, reduzierte sich der Wert im Jahre 2013 schon auf acht Sekunden und sank damit unter der eines Goldfisches.

Im digitalen Kontext sinkt zunehmend die Fähigkeit, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Immer mehr Informationen treten in Erscheinung und konkurrieren miteinander um unsere Wahrnehmung und Zuwendung. Der Reiz des Neuen treibt uns an und auch schnell weiter.

Es gibt die Annahme, dass bei digital erfahrenen Nutzern durch schnelleres Einschätzen von Qualität und Relevanz eine Fokussierung auf spezifische Inhalte stattfindet, denen ein höherer Stellenwert eingeräumt werden kann, was aber gleichzeitig bedeutet, dass es starke Unterschiede der Aufmerksamkeitsqualität gibt:

 

While digital lifestyles decrease sustained attention overall, it’s only true in the long-term. Early adopters and heavy social media users front load their attention and have more intermittent bursts of high attention. They’re better at identifying what they want/don’t want to engage with and need less to process and commit things to memory.

Quelle: Consumer Insights, Microsoft Canada, in: Attention Spans, 2015

 

Eine Fülle von Informationen erzeugt einen Mangel an Aufmerksamkeit. Je größer der Zähler, desto stärker muss auch der Nenner wachsen, um einen ausgeglichen Impact zu erzielen. Dies ist eine logische Gleichung, die in diesem Fall aber nicht auf Eins hinauslaufen kann, weil sie den Faktor Zeit beinhaltet.

Aufmerksamkeit ist durch seinen zeitlichen Bezug nicht beliebig aufrechenbar. Es entsteht ein Ungleichgewicht und damit ein Interessenskonflikt zwischen Informationsangebot und Nachfrage/Verwertung.

 

Je größer die Menge der Möglichkeiten, diese begrenzte Ressource Aufmerksamkeit zu verwenden, desto knapper ist sie. Das hat der Wirtschaftschaftnobelpreisträger Herbert Simon schon in den Siebzigerjahren beschrieben: ›A society, that is information-rich, is attention-poor.‹

Quelle: Georg Franck, in: brand eins, 02 2017, s. 50

 

Ganz im Sinne von Marshall McLuhans These »The medium is the message.« ist Design immer auch Botschafter und Informationsträger. Lapidar könnte Design in diesem Zusammenhang als geformte und Form gewordene Information bezeichnet werden.

Design und seine formale Sprache sind immer auch Ausdruck eines vorherrschenden Informationsmanagements in seinem kulturellen Kontext. Im Rückblick ist gut ersichtlich, wie inhaltliche Debatten und Trends Design geprägt und gleichzeitig durch dieses geformt worden sind. Das Thema »Nachhaltigkeit« ist ein anschauliches Beispiel aus den letzten Jahren.

Begünstigt durch die Digitalisierung hat die Entwicklung des stetig wachsenden Informationsflusses und den Versuchen seiner Kanalisierung natürlich auch seine Wirkung auf das Design (in seinen Inhalten und formalen Ausprägungen).

Der Bereich der »Oberflächengestaltung« – sprich Benutzeroberflächen (UI) – kann als Indiz einer Entwicklung gesehen werden, wie Design formal mit Detailverlust auf reduzierte Aufmerksamkeitsspannen der Nutzer bei gleichzeitiger technischer Prozessoptimierung reagiert hat. Weniger Details bedeuten in diesem Zusammenhang schnellerer Orientierung und geringeren Ladezeiten.

»Flat Design« ist im Interfacedesign seit einigen Jahren Gestaltungskonsens. Seit Apples iOS 7, Microsofts Windows 7 oder Googles Android 5 gibt es den Ton an. Dreidimensionalität wird im »Flat Design« zugunsten einer minimalen Designanmutung fast vollkommen zurückgenommen. Auf die Nachahmung der Wirklichkeit (Skeuomorphismus) unter Verwendung realistischer Texturen, Plastizität, Verläufe und Schatten wird dabei vorwiegend verzichtet. Das Prinzip »Flat Design« wird interpoliert und gibt Gestaltungsrichtlinien für ganze Systeme vor, wie es gut an Googles gestalterischem Baukasten »Material« ablesbar wird.

 

Material is a metaphor, a system for uniting style, branding, interaction, and motion under a consistent set of principles.

Quelle: Google, Styleguide »Material Design«

 

Die Digitalisierung (Stichwort: »Smart Objects«) hebt zunehmend die 3-dimensionalen Grenzen und die damit verbundene funktionale Beschränkung von Artefakten auf. Den Objekten werden Informationslayer hinzugefügt, die immer neu aufgeladen werden können und vom Objekt selbst in seiner realen Gegenwart hin zu virtuellen Informationen und ihrer Vernetzung lenken. Design fügt den analogen Grundfunktionen eines Objektes (durch Updates) beliebig viele digitale Möglichkeiten hinzu. Teilweise fungiert Design als bloßer Container für eine virtuelle Nutzung. Design beschränkt sich in diesem Fall auf die Gestaltung von Oberflächen¹ und übernimmt eine leitende Funktion als Mittler zu einer anderen Nutzung und Dimension (Portalfunktion).

Auf Details zu verzichten, kann Komplexität verringern. Informationen werden abgebaut oder können in Aufmerksamkeitslayer aufgespalten werden, um bei Interesse (im Zwiebelprinzip) an die Oberfläche befördert zu werden. »Detail-Mining« wäre dafür ein passender Begriff.

 

Simplicity is a high-risk affair because it means you are betting that fewer features will deliver greatest value.

Quelle: John Maeda on Twitter

 

Wenn man immer mehr Details von der sichtbaren Ebene verbannt, besteht die Gefahr, den Fokus zu sehr auf die Oberfläche zu lenken und die Schichten darunter nicht zu gestalten oder zu vergessen. Detailverlust sollte nicht zu Gestaltungsverlust führen sondern eher dazu anregen, Komplexität als einzelne Layer im System zu begreifen, zu denken, zu entwerfen und nutzbar zu machen. Dies gilt für jede Form von Gestaltung. »Flat Design« sollte keine »Flat Perception« begünstigen. Details müssen nicht unsere Aufmerksamkeitsspannen bereits an der Oberfläche verschlingen, aber sie können an anderer Stelle den Kontext erweitern. Und vielleicht brauchen wir ab und zu Details als kleine Irritation, um innezuhalten, uns einzulassen und zu begreifen.

¹ Der Begriff »Oberflächengestaltung« ist im Sinne von Styling in Designkreisen unbeliebt und ruft Abwehrreaktionen hervor. Design hat den Anspruch, durchdacht und fundiert zu sein. Wenn unter der Oberfläche aber die Gestaltung weitergeht und Funktionen und Informationen dort nicht versiegen sondern vielmehr durch gutes Design anfangen zu sprudeln, hat Gestaltung von »Benutzeroberflächen« eine anerkannte und tragfähige Bedeutung.